Samstag, 5. Oktober 2013

Der Baummarder von der Amseldell

Wenn sich die Dämmerung wie Nebel zwischen die Bäume bei der Amseldell legt, verlässt der Baummarder seinen Unterschlupf, in einer Höhle der alten knorrigen Traubeneiche und geht auf die Jagd. Er klettert kopfüber den dicken, starken Stamm hinunter, springt einige Sätze durch raschelndes Buchenlaub, steckt immer mal wieder seine Nase in ein Bodenloch und hebt sie witternd hoch. Dann setzt er an einem morschen Baumstumpf und auf den mit Porlingen bewachsenen Buchenstämmen, die hier liegen, seine Duftmarke ab.
Nachdem er auf diese Weise seinen Wechsel und Pass markiert hat, der schon von Mardergenerationen vor ihm eingehalten wurde, setzt er seinen Weg fort. Mit einem Male hält er inne, weil sein scharfes Gehör ein ihm bekanntes Geräusch wahrgenommen hat. Sofort ortet er woher das Geräusch stammt. Schnell wie ein Blitz springt er zu, reißt die Spitzmaus aus dem Laub und verschlingt sie gierig. Hinter der alten Amseldellhütte, wo ein Unwetter einige Fichten zusammengedrückt hat, windet sich der Marder schlangengleich durch Dickicht und Unterwuchs der Bäume. Durch enge Löcher, unter herausgerissenen Wurzeln hindurch. Es gibt kaum einen Spalt, durch den er sich nicht geschickt hindurch zwängen kann. Hoch oben beim Scharderkopf, wo jetzt der Vollmond auf die mystischen Steingebilde fällt, schnappt er einen Nachtfalter. Am alten Fuchsbau verweilt er einige Zeit am Himbeergebüsch und frisst von den süßen Früchten, dann zieht er hungrig weiter. Im Morgengrauen, als er schon in seinen Schlupfwinkel bei der alten Eiche zurückkehren will, entdeckt er ein Eichhörnchen. Als dieses den Marder erkennt, klettert es in Schraubenwindungen eine alte Fichte hoch. Dann springt es von einer Baumkrone zur nächsten, der Marder immer hinterher. Aufwärts und abwärts geht die Jagd. Schließlich springt das Eichhörnchen mit einem mutigen Satz ins Leere. Diesen Luftsprung kann der Marder nicht nachmachen. Das Eichhörnchen verschwindet in einem Versteck und der Jäger pirscht hungrig weiter. Noch bevor die Sonne aufgeht hat er seinen Unterschlupf an der Amseldell erreicht. Hier verschläft er den Tag und träumt von der nächsten Jagd.

Foto Hans Wanger