- Teil I
Gleich hinter dem Haus begann der Wald. Vereinzelt zogen sich Birken und Kiefern Hügelwerts um sich nach etwa hundert Metern einem dusteren Mischwald anzuschließen. Viele Jahrzehnte bewohnte die Großmutter alleine das Haus am Waldrand. Vor einigen Wochen hatte sie ihren kleinen Enkel aus der Stadt bei sich aufgenommen.
War es viele Jahre ruhig und still in dem alten Haus am Waldrand, so tönte nun doch des öfteren wieder junges Leben aus dem alten Gemäuer.
Die alte Frau war wohl anfangs etwas skeptisch, doch nun war sie so zufrieden wie der Knabe, der den ganzen Tag, vorwiegend im Kräutergarten vor dem Haus spielte.
Für den kleinen Jungen war das Leben im Garten und Wald ein einziges großes Geheimnis.
War ihm bisher doch nur die trostlose graue Stadt bekannt gewesen. Hier auf dem Land war alles anders. Das Haus stand abseits vom Dorf. Der Hund, die Katze und die Hühner waren Spielgefährten des Kindes. Besonders gerne spielte der Junge hinter dem Haus wo, der Wald begann. Zwischen den Birken und Kiefern hatte sich im Lauf der Jahre ein eng verschlungenes Dickicht angesiedelt.
Gleich zu Anfang der grünen Wunderwelt gedeiht die Tollkirsche mit ihren manchmal traurigen, braunroten Blüten. Wie dunkelbraune Tropfen schimmerten die Einbeere unter einem alten Holunderbaum. Aber auch die roten Beeren des Seidelbasts und der Eberesche prunkten an diesem heimeligen Platz. Eine uralte, verknorrzte Eichenwurzel, die wie eine Faunsgestalt aussah war ganz vom Bärlapp überwuchert, daneben öffnete das Springkraut seine zitronengelben Blüten und dem Jungen war es eine Freude diese Frucht anzufassen und zu spüren wie die Samenkapseln langsam explodierten.
Schon früh im Herbst reiften hier die majestätischen Hexenringe der mystischen Fliegenpilze.
Dazwischen stand auch immer wieder einmal ein kraftstrotzender Steinpilz.
Wenn der Junge hier spielte sah es so aus als spiele ein Zwerg im Gebüsch. Um in das innere des geheimnisvollen Wald zu kommen, muss er auf allen vieren auf dem Boden kriechen. Geschickt muss er sich am scharfen Brombergerank und den Himbeerbüschen vorbei schleichen. Gleich hinter dieser Stachelmauer scheint immer Dämmerungszustand zu sein. Ein moosiger, fauler Geruch entschwebt hier der Erde, als atme sie aus.
Nun sitzt der Junge im Farngestrüpp und bestaunt die geheimnisvolle Welt dieses wundervollen Waldes. Er schaut mit den unschuldigen Augen der Kinder dieser Welt und sieht wohl noch Dinge, die Erwachsene lange schon nicht mehr erkennen können.
Diese lieblichen, unschuldigen von einer schlechten Welt noch nicht verdorbenen Augen, durchforsten nun mit Wieselblick das Dickicht um ihn herum. Das Interesse für seine naturmystische Umgebung verleiht seinem kindlichen Blick die Sehkraft des Sperbers, dem aus den Lüften noch nicht einmal die Bewegung eines Hirschkäfers an der alten Eiche entgeht, die hier wächst. Nichts bleibt diesem unruhigen, wachen Kinderblick verborgen. Dennoch bemerkt er nicht, dass er selbst beobachtet wird. Die sichtbaren und unsichtbaren Wesen des Waldes lassen auch ihn nicht aus ihren Augen. Vorsicht! So heißt das oberste Gebot der nicht jedem sichtbaren Waldbewohner. Der Junge sieht nicht die Waldeidechse, die aus einiger Entfernung misstrauisch herüberäugt, auch nicht die Kreuzspinne, die sich gerade über seinem Kopf langsam abseilt. Der Baumläufer lugt hinter einem Stamm neugierig hervor und ein Wiesel streckt seinen Kopf aus einem alten vermoderten Baumstrunk. Dinge die ihm sonst nie entgehen, bemerkt er im Moment überhaupt nicht, auch nicht das er von einem seltsamen Wesen beobachtet wird. Mit glühenden, feuerroten Koboldaugen beobachtet eine winzig seltsam aussehende Gestalt jede Bewegung, die das Kind macht. Das Geschlecht dieses Wesens ist älter als die Menschheit und bevölkerte die alte Mutter Erde schon zu Zeiten als auf ihr noch die Dinosaurier wandelten. Seit dem Anfang aller Tage, seit es Wälder gibt, hausen sie in ihnen. So geschickt passen sie sich ihrer Umgebung an, das kein Mensch sie erkennen kann, wenn sie selbst es nicht möchten. Nur Kinderaugen, die noch anders sehen können, erblicken manchmal, die seltsamen Gestalten aus dem uralten Geschlecht der Naturgeister.
In dem Wäldchen ist es jetzt still geworden. Kein Windhauch, kein Vogelruf, selbst die Hummel summt nicht mehr. Es scheint, als liege plötzlich ein magischer Bann über dem Wald. Das Kind schaut durch das geballte Grün, als wollte es etwas erkennen, es spürt etwas kann es aber nicht orten. Dann erspäht er das seltsame Waldwesen, das ihn seit geraumer zeit beobachtet. Ihre Blicke kreuzen sich. Stumm und erschrocken starrt der Knabe auf die seltsame Erscheinung. Er kann sich nicht bewegen, ist wie erstarrt. Die unschuldigen Kinderaugen messen sich, mit dem stechend, scharfen Blick des Wichtelwesens. In diesem Augenblick tönt vom Haus her die Stimme der Großmuter. Das seltsame Wesen hebt seine Hände wie zum Gruß, auch der Junge grüßt zurück. Wie unter einem Zauberbann stehend erhebt er sich langsam vom Waldboden, ein letztes Winken, und er läuft schnell zur Großmutter. Morgen wird er wieder hier spielen.
hukwa